Diabetes-Typ-1 bei Kindern: Automatisierte Insulinpumpensysteme können Entlastung für die ganze Familie bieten

   

Frau Dr. von Sengbusch

Interview mit Frau Dr. med. Simone von Sengbusch

Dr. med. Simone von Sengbusch ist Kinderdiabetologin und steht im Interview Rede und Antwort zu verschiedenen Themen rund um Typ-1-Diabetes bei Kindern: Von den Heraus­forderungen, die diese Kinder im täglichen Leben haben bis hin zur Unterstützung durch moderne Insulinpumpensysteme. Von Sengbusch ist Oberärztin im Bereich Kinderdiabetologie am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Lübeck, in der Klinik für Kinder- und Jugend­medizin. Sie ist Fachärztin für Kinderheilkunde und Jugendmedizin, Diabetologin DDG sowie Psychotherapeutin und hat zudem einen Master in Public Health. 

Insulintherapie bei Kindern mit Typ-1-Diabetes: Was sind aus Ihrer Sicht die Herausforderungen im Alltag, gerade bei den kleinen Patient*innen?

Dem Kind das Insulin zu geben, das dem Körper fehlt, ist eine tagtägliche enorme Leistung, die sehr viel Disziplin, Geduld, Rechenfähigkeiten und auch Frustrationstoleranz erfordert. Auch wenn man das Insulin richtig berechnet hat, schwanken die Glukosewerte oft stark. Kleine Kinder benötigen sehr kleine Dosierungen, die trotzdem stark wirken. Bei allen Kindern und Jugendlichen muss das Insulin ständig an den wachsenden Bedarf des Körpers angepasst werden. Der Basalbedarf, der nichts mit Essen zu tun hat, ist zudem wellenförmig: Es gibt nie eine Basaleinstellung, die jede Nacht gleich gut passt. Mal sind die Nächte gut, mal hoch oder tief. Die Folge ist, dass Eltern mehrmals pro Nacht aufstehen müssen, um das Insulin anzupassen. Alles was Einfluss auf den Glukosespiegel hat, muss ausbalanciert werden: Insulin, Essen, normale Bewegung und Sporttraining, Stress oder Krankheit – und das jeden Tag 8 bis 10 Mal. Die neuen Pumpensysteme (AID, Automatisierte Insulin-Dosierung) mit Algorithmen sind in dieser Situation eine Wohltat. Sie passen den Glukose­spiegel an den angestrebten Glukosewert an. Beim MiniMedTM 780G System macht der Algorithmus das alle 5 Minuten, 288-mal am Tag und korrigiert noch zusätzlich, wenn es nötig ist. 

Welche Bedeutung haben der HbA1c-Wert und die Zeit im Zielbereich (Glukosewerte zwischen 70 bis 180 mg/dl) für das Diabetesmanagement bei Kindern?

Auch für Kinder wird ein HbA1c-Wert unter 7,0% angestrebt. Der HbA1c bleibt weiter der Goldstandard im Hinblick auf die Langzeitprognose. In den letzten Jahren zeigt sich aber auch, dass die Zeit, die die Sensorwerte im Zielkorridor (70-180 mg/dl bzw. 3,9-10 mmol) liegen, viel besser die Qualität der Stoffwechsellage darstellen, als der HbA1c-Wert. Über 70% der Sensorwerte im Zielbereich, bei weniger als 4% Unterzuckerungen, das spricht für eine sehr gute Einstellung, weit mehr, als z.B. ein HbA1c von 6,8% allein. Der HbA1c-Wert im Blut und die Auswertung der Sensorwerte (über/unter/im Zielbereich) sind also zur Bewertung einer guten Stoffwechsellage nötig. Die Visualisierung des Glukoseverlaufs, z.B. auf einer App oder in einer Software, ist sehr hilfreich. Durch eine gut durchdachte Darstellung der Sensorkurve über 24 Stunden mit allen Mahlzeiten-Boli, der automatisierten Basalrate und Korrekturen erschließen sich jedem gleich Ursache und Wirkung und die Erfolge. Das ist schon für Schulkinder interessant: Die verstehen das und freuen sich über einen erfolgreichen Tag. Beim Termin in der Praxis kann ich mich zusammen mit ihnen freuen. Das ist sehr schön bei einer Erkrankung, bei der man oft nach Fehlern sucht und wo man noch etwas besser machen kann. 

Was sind die Folgen, wenn die Glukose nicht optimal eingestellt ist?

Leicht erhöhte Werte merkt man erst mal nicht. Manche Kinder spüren, dass die Konzen­tration nachlässt oder sie berichten von Kopfweh. Eltern sagen oft, die Kinder werden hibbelig oder haben schlechte Laune. Auch über Monate moderat erhöhte Glukosewerte verursachen keine oder wenig Beschwerden. Das ist ein Problem, da wir natürlich Folge­schäden im jungen Erwachsenenalter vermeiden wollen. Aber das ist für viele noch weit weg. Eine Unterzuckerung ist hingegen unangenehm und zeigt sich z.B. durch Schwitzen, Schwäche, Zittern oder Heißhunger, oder auch nur durch einen Sensoralarm. Hier muss man den Zustand sofort durch Glukosegabe korrigieren, aber als Betroffene*r will man das unangenehme Gefühl ja auch beenden. Hohe Glukosewerte schmerzen nicht und sind daher viel leichter auszublenden. Beim Diabetes ist es so, dass die Familie, das Kind, der betroffene Erwachsene jetzt und jeden Tag wieder sein Bestes geben muss, um in 10 oder 20 Jahren keine frühen Folgeschäden zu erleiden. Das ist wirklich eine große Heraus­forderung, und die Frage „was ist später“ darf weder mit Angst den Alltag dominieren noch völlig verdrängt werden.

Wie ist ein optimaler Glukoseverlauf tagsüber und nachts? Wo können Probleme auftreten?

Optimal ist ein Glukosewert von 70 bis 180 mg/dl am Tag und in der Nacht. Kleine Schwankungen bei den Mahlzeiten sind normal, aber wichtig sind möglichst kurze Zeiten außerhalb dieses Bereiches. Instabilität der Werte in der Nacht sind ein großes Problem bei Kindern. In den frühen Morgenstunden steigt der Glukosespiegel (Morgendämmerungs­phänomen). Das liegt an den Wachstumshormonen, die bei Heranwachsenden um diese Zeit wirken. Diese wirken dem Insulin entgegen. In den Morgenstunden wird daher mehr Insulin benötigt, besonders in der Pubertät. Bei kleineren Kindern hingegen gibt es einen erhöhten Bedarf vor Mitternacht (Abenddämmerungsphänomen) und alle zeigen eine Tendenz zu niedrigen Werten zwischen ca. 2.00 und 4.00 Uhr. Tagsüber sind die Mahl­zeiten-Boli die Herausforderung. Kinder können ihren Appetit noch nicht richtig einschätzen, das Insulin muss aber vor der Mahlzeit gegeben werden. Das ist eine organisatorische und pädagogische Herausforderung. Diabetes erfordert insgesamt viel Disziplin. Eine Pumpe, die in diesen Situationen den basalen Bedarf automatisch jede Nacht neu optimal dosiert und durch einen Algorithmus auch Schwankungen im Tagesverlauf und vor allem nach der Mahlzeit ausgleicht, ist eine sehr große Hilfe. 

Welchen Stellenwert hat das neue Advanced-Hybrid-Closed-Loop-System MiniMed™ 780G mit der SmartGuard™ Funktion in der kontinuierlichen Therapie des Typ-1-Diabetes?

Die automatisierte Basalabgabe, die über einen Sensor gesteuert wird, ist für die Kinder ein großer Fortschritt. Denn die Basalabgabe ist zu jeder Zeit und an jedem Tag etwas anders. Das MiniMed™ 780G Insulinpumpensystem entscheidet mit dem SmartGuard™ Algorithmus alle 5 Minuten, wie weit die Sensorglukose vom Zielwert entfernt ist und wieviel Insulin jetzt nötig ist, um den gewünschten Zielwert zu erreichen. Dadurch wird das Abends- und Morgen­dämmerungsphänomen automatisch korrigiert und ist gar nicht mehr zu sehen. Die Pumpe korrigiert bei Bedarf auch zusätzlich, das heißt „Auto-Korrektur“, z.B. wenn eine Mahlzeit falsch eingeschätzt wurde. Der Algorithmus passt zudem automatisch (durch Abzug oder Zugabe von Insulin) die Mahlzeiteninsulinmengen an, und nimmt dafür Analysen der letzten Tage mit in die Berechnung auf. Das ist im Alltag eine große Hilfe, indem es dem Pumpen­nutzer – Kind oder Erwachsenem – einfach sehr viel Arbeit abnimmt, und kann dazu beitragen, die Stoffwechsellage enorm zu verbessern. 

Was ist neu und inwiefern unterstützt das MiniMed™ 780G System Patient*innen?

Der Algorithmus strebt an, immer den einprogrammierten Zielwert zu erreichen und zu halten. Neu sind, dass der Zielwert nun individuell aus drei Zielwerten gewählt werden kann (100,110 oder 120 mg/dl (5,5; 6,1; 6,7 mmol/l), bei Sport 150 mg/dl (8,3 mmol/l)), und die automatischen Korrekturboli, die das System eigenständig bei Bedarf abgibt. Weiterhin bietet diese Pumpe eine sehr benutzerfreundliche Oberfläche mit 9 Farbsymbolen, die praktisch selbsterklärend sind. Warn- und Alarmmeldungen wurden auf ein Minimum reduziert, damit die Nutzer*innen nur dann eine Meldung erhalten, wenn es wirklich nötig ist. Familien, deren Kinder vorhergehende Pumpenversionen von Medtronic genutzt haben, beschreiben die „Ruhe“ die sie jetzt erleben, vor allem nachts, als sehr großen Vorteil.

Was verändert sich für Sie als Diabetologin dadurch?

Auch wir Diabetesteams müssen bei den neuen Pumpen etwas dazu lernen. So können wir die Basalabgabe nicht mehr beeinflussen. Der Pumpenalgorithmus macht das – und zwar sehr gut. Wir können aber die Stärke der Korrektur, die Glukoseziele und die Mahlzeiten­faktoren gemeinsam ändern. Das Vertrauen wächst dadurch, dass wir verstehen, wie der Algorithmus arbeitet. Es ist mit den Modellen von Medtronic gewachsen – jedes Modell konnte etwas mehr. Zu Beginn tragen die Patienten*innen das Pumpensystem mit Sensor und Unterzuckerungsschutz-Funktion, aber ohne die hohe, neue Automatisierung. Das System lernt den Nutzer erst mal kennen und der Algorithmus passt sich an den individuellen Bedarf an. Vertrauen bauen wir auch dadurch auf, dass wir gemeinsam mit den Kindern und den Eltern die Werte in den Daten anschauen. Man muss es einfach sehen: Die Visuali­sierung der einzelnen Tage ist in der Nachbetreuung enorm wichtig. Das macht Spaß und Eltern und Kinder sind sehr zufrieden. 

Wann empfehlen Sie Kindern mit Typ-1-Diabetes die Verwendung des Advanced-Hybrid-Closed-Loop-Systems MiniMed™ 780G? 

Nahezu alle Kinder unter 6 Jahren bekommen in Deutschland initial eine Insulinpumpe und einen Glukosesensor (CGM) verschrieben. Bei Kindern bis ca. 10 Jahren werden von einigen Krankenkassen auch die Kosten für eine initiale Pumpentherapie übernommen, aber die meisten Kinder starten erst einmal noch mit Insulinpens. Das MiniMed™ 780G System ist ab einem Alter von 7 Jahren zugelassen. Der Wechsel auf eine Insulinpumpe erfolgt dann, wenn ein Problem vorliegt, zum Beispiel nächtliche Schwankungen, und muss vom Diabetologen begründet und von den Krankenkassen bewilligt werden. Für Menschen mit Typ-1-Diabetes die viele Schwankungen erleben, vor allem nachts, oder Unterzuckerungen kaum spüren, oder eben Kinder und Jugendliche ist die Pumpentherapie oft die bessere Therapie, je höher automatisiert, umso besser. Ein Großteil aller Kinder in Deutschland nutzt eine Insulinpumpe, von Anfang an oder dann im Verlauf. Initial mit der Pumpe zu starten, hat den Vorteil, dass das Kind nicht zwei komplett unterschiedliche Therapieformen nacheinander erlernen muss, das spart im Übrigen auch Kosten für einen weiteren stationären Aufenthalt ein.  

Welche Ängste gibt es möglicherweise bei Eltern und Kindern und wie begegnen Sie denen?

Die größte Angst der Eltern ist die Unterzuckerung. Tagsüber müssen sie ihre Kinder loslassen, wenn sie in der Schule, beim Spielen und einfach nicht in Sichtweite sind. Bei der MiniMed™ 780G gibt es eine App für den Nutzer und eine App für Vertrauenspersonen. Die Insulinpumpe überträgt mittels Bluetooth die Daten an die MiniMed™ Mobile App des Pumpennutzers. So kann der Nutzer seine Daten einsehen, ohne die Pumpe hervorzuholen. Über die App CareLink™ Connect können die Vertrauenspersonen, zum Beispiel die Eltern, die Werte des Kindes mitlesen. Das beruhigt, auch wenn Mama und Papa nicht direkt eingreifen können. Das besprechen wir mit den Eltern. In der Nacht können die Eltern einfach mal ohne nächtliche Kontrollen durchschlafen, wenn keine Meldung auf ihr Smartphone übertragen wird. 

Was sind bei Ihren Patient*innen – und auch für die Eltern – die Herausforderungen bei der Therapie mit dem MiniMed™ 780G System mit der SmartGuard™ Funktion und wie unterstützen Sie dabei? 

Der Guardian™ Sensor 3 muss zweimal am Tag kalibriert werden, das heißt zweimal am Tag Blutzucker messen. Aber mit dem neuen kalibrierungsfreien Guardian™ 4 Sensor fällt das jetzt weg. Mit Technik müssen sich die Eltern aber grundsätzlich etwas beschäftigen. Im ersten Schritt lernen Sie einen Account bei Medtronic anzulegen, so dass die Daten dort gespeichert werden können, dann die Apps auf dem Smartphone mit der Pumpe zu verbinden. Viele Eltern kaufen den Kindern ein zur Pumpe kompatibles Smartphone, damit sie die Datenübertragung der Medtronic Apps nutzen können, das ist natürlich schon eine kleine Investition, aber dafür gibt es aber besseren Nachtschlaf für alle. Dank der Bluetooth-Technologie ist jetzt auch ein Upgrade auf neue, zukünftige Algorithmen möglich. Das ist aus ökonomischer Sicht sehr sinnvoll und der Patient muss nicht 4 Jahre auf den nächsten Entwicklungsschritt warten, bis Krankenkasse ein neues Gerät genehmigt. Er spielt einfach eine bessere Software auf. 

Welche Erfahrungen haben Sie mit jungen Patient*innen (ab 7 Jahren) und Jugendlichen, die das MiniMed™ 780G System nutzen, in der Praxis gemacht?

Kinder probieren vieles aus, auch was die Pumpe so kann. Kleinere Fehler gleicht die Pumpe aus: Die Eltern haben vom Einkaufen leckere Trauben mitgebracht, die jetzt in der Küche liegen. Welches Kind greift da nicht mal zu und isst ein paar Trauben. Den ansteigen­den Glukosespiegel gleicht die Pumpe jetzt durch die Funktion „Auto-Basal“ und wenn nötig „Auto-Korrektur“ wieder aus. Diese Funktionen sollen jetzt nicht als Aufforderung verstanden werden, bei den Mahlzeiten gar keine Mahlzeiten-Boli abzugeben, aber im Alltag gibt diese Korrekturfunktion eben doch ein Stück normales Leben zurück und gleicht so manche Ungenauigkeit erstaunlich gut aus. Die Pumpe ist mit dem Farbsymbolen auch für jüngere Kinder im Grundschulalter einfach zu bedienen, Short-Cuts führen mit einem Klick sofort an die richtige Menüstelle, und das System gibt selten Alarm. Das ist sehr benutzerfreundlich. Die Kinder haben mit dem MiniMed™ 780G System viel stabilere Nächte. Alle in der Familie können besser schlafen und wenn man 6 von 7 Nächten durchschlafen kann, ist das ein großer Erfolg.

Was sind für Sie die größten Erfolgserlebnisse?

Ich bin ein großer Fan der Automatisierung, weil ich mehr Erfolgserlebnisse und Freude mit meinen Patient*innen und ihren Familien teilen kann. Die Technik bringt den Patienten*innen einen großen Benefit, der Weg Richtung „technische Heilung“ ist eingeschlagen. Man muss Pumpe und Sensor „verheiraten“ und dann müssen sie noch schön „miteinander tanzen“ – dafür sorgt der Algorithmus. Ich bin guter Hoffnung, dass ich in meiner Berufszeit noch mit Full-Closed-Loop-Systemen zu tun haben werde. Es freut mich unglaublich, dass ich meinen Patienten*innen sagen kann, dass die Entwicklung weitergeht – alle 4 bis 5 Jahre können wir mit einem Quantensprung rechnen.