Indikationserweiterung bei Transkatheterklappenersatz (TAVI)

Für Patientinnen und Patienten mit symptomatischer Aortenklappenstenose bei niedrigem operativem Risiko war der Transkatheter-Aortenklappenersatz bislang nur in Ausnahmefällen eine therapeutische Option. Studienergebnisse und Registerdaten belegen nun, dass auch für diese Patient|inn|enpopulation der interventionelle gegenüber dem chirurgischen Aortenklappenersatz mindestens ebenbürtig ist. Prof. Dr. Horst Sievert, Gründer und Leiter des CardioVasculären Centrums Frankfurt, warnt im Interview aber auch davor, die Entscheidung zwischen TAVI und Operation allein vom operativen Risiko abhängig zu machen.

Ein wichtiges Kriterium bei der Therapieentscheidung für Patientinnen und Patienten mit symptomatischer (schwerwiegender) Aortenklappenstenose ist das operative/chirurgische Risiko der Betroffenen. Wie sind die Risikostufen von einem sehr hohen/hohen und intermediärem Operationsrisiko definiert und wann wird von einem niedrigen Risiko gesprochen?

Prof. Sievert im Porträt

Prof. Dr. Horst Sievert: In Europa wird das operative Risiko meist nach dem EuroScore abgeschätzt. Eigentlich hat der EuroScore-II den älteren EuroScore-I abgelöst. Der EuroScore-I ist aber nach wie vor in Gebrauch, weil er bei den meisten Studien zur Transkatheter-Aortenklappenimplantation (TAVI) verwendet wurde.

Nach dem EuroScore-I gelten eine Patientin bzw. ein Patient mit einem Score von weniger als zehn Prozent als Niedrig-Risikopatient und ein Patient mit einem Score von mehr als 20 Prozent als Hochrisikopatient. Beim EuroScore-II liegen diese Grenzen bei niedriger als vier Prozent und höher als zehn Prozent.

Es gibt natürlich zahlreiche Faktoren und Begleiterkrankungen, die mit dem EuroScore nicht erfasst werden und die das individuelle Risiko der Patientinnen und Patienten erhöhen können.

Patientinnen und Patienten mit einem niedrigem Operationsrisiko sollten bislang - bis auf bestimmte Ausnahmesituationen - bevorzugt chirurgisch behandelt werden. In welchen Konstellationen kommt bei diesen Betroffenen mit niedrigem Risiko dennoch ein interventioneller Transkatheter-Aortenklappenersatz infrage?

Sievert: Nach den Leitlinien der European Society of Cardiology (ESC) von 2017 soll das Für und Wider der Optionen (TAVI oder Operation) individuell abgewogen werden. Dazu zählen nicht nur patientenbezogene Faktoren, sondern auch die Erfahrungen des jeweiligen Zentrums. In den vergangenen Jahren gibt es tatsächlich auch Tendenzen, dass der Wille des Patienten wieder eine Rolle spielen sollte - ansatzweise wie früher, als ich mit der Medizin anfing.

Schon aus Register-Daten deutete sich in der Vergangenheit an, dass auch Niedrigrisiko-Patientinnen und -Patienten von einer TAVI im Vergleich zu einem chirurgischen Aortenklappenersatz profitieren. Im vergangenen Jahr konnte in zwei Studien, PARTNER-3-Trail und Evolut Low Risk Trial, mindestens die Ebenbürtigkeit des interventionellen Verfahrens im Vergleich zum chirurgischen Vorgehen bei Patientinnen und Patienten mit niedrigem Risiko nachgewiesen werden. In der Evolut-Studie konnte erstmals eine hämodynamische Überlegenheit einer TAVI-Klappe gegenüber chirurgischen Aortenklappen in einer Niedrigrisiko-Population gezeigt werden. Was sind aus Ihrer Sicht die Kernerkenntnisse aus diesen Studien?

Sievert: Grundsätzlich können wir jetzt allen Patienten mit einer symptomatischen Aortenklappenstenose eine TAVI als Alternative zur Operation anbieten. Es gelten allerdings noch gewisse Einschränkungen für jüngere Patientinnen und Patienten sowie solchen mit bikuspiden Klappen, weil die nicht in die Studien eingeschlossen wurden.

Die randomisierten Low-risk-Studien haben nicht nur gezeigt, dass die TAVI zu ähnlichen Ergebnissen führt wie der operative Klappenersatz. Tatsächlich war die TAVI in nahezu allen Endpunkten entweder genauso gut wie die Operation oder sogar überlegen. Dies gilt zum Beispiel auch für die Schlaganfallrate und die Schrittmacherrate. Die EVOLUTTM-Plattform hat darüber hinaus zu besseren hämodynamischen Ergebnissen geführt.

Die Evolut TM R/PRO-Klappe hat die Zulassung zur Behandlung von Patientinnen und Patienten mit symptomatischer Aortenklappenstenose bei niedrigem Operationsrisiko erhalten. Inwiefern wird diese Zulassung aus Ihrer Sicht den klinischen Alltag bei der Versorgung dieser Patient|inn|en-Gruppe verändern? Was ist durch die Zulassung bei der Diagnosestellung zu beachten?

Sievert: Es werden künftig mehr TAVIs durchgeführt werden. Wir müssen aber von der Idee wegkommen, dass nur das operative Risiko entscheidend ist für die Frage TAVI versus Operation. Dies war von Anbeginn ein Irrweg. Es muss vielmehr auch das TAVI-Risiko berücksichtigt werden. Das Risiko, bei einer TAVI eine Komplikation zu erleiden, hat nicht viel mit dem Operationsrisiko zu tun. Entscheidend ist eine individuelle Risikoabwägung.